Chronische Krankheit und Familie
«Der eine sieht nur Bäume,
Probleme dicht an dicht.
Der andere, Zwischenräume und das Licht.»(E. Matani)
Chronische Krankheit und Familie
Eine körperlich chronische Erkrankung im Kindesalter betrifft die ganze Familie und erfordert von dieser eine enorme Anpassungsleistung. Unabhängig von der Art der chronischen Erkrankung ist allen gemein, dass die gesamte Familie stark belastet ist und sich ihr Alltag, die innerfamiliären Rollen, Routinen, Aktivitäten, Ziele, Werte sowie das Familienklima von heute auf morgen verändern. Es bedeutet, alte Gewohnheiten, Abläufe und Vorstellungen zu verlassen und erfordert eine Neuorientierung.
Besonders nach der Diagnoserstellung befindet sich die Familie in einer Ausnahmesituation. Ein Wechselbad von Gefühlen bei allen Familienmitgliedern, ein Bewegen zwischen Gegenwarts- und Zukunftsängsten, Ohnmacht, Frust, Wut (warum wir? warum mein Kind?), Scham- und Schuldgefühlen.
Die Belastung und Auseinandersetzung mit der Diagnose beziehen sich auf die Akzeptanz der Erkrankung sowie auf die damit verbundenen Auswirkungen auf die Partnerschaft, die Geschwisterkinder, die Erziehung, die schulische, berufliche, finanzielle Situation, die Lebensplanung und die Zukunftsperspektiven.
Hauptfokus der Beratung und Begleitung liegt darauf, die Familie und ihre individuellen Ressourcen zu stärken, um die Eltern und Geschwister chronisch kranker Kinder in der besonderen Belastungssituation in ihrer Entwicklung zu unterstützen sowie das Risiko für potenzielle oder bereits vorhandene emotionale Belastungen zu reduzieren.
Geschwister
«Ich wusste, dass mein Bruder krank war, sehr krank. Ich wollte auch niemals krank sein; was für eine absurde Idee. Ich will meine Eltern doch nicht noch mehr belasten. Sie sollen sich keine Sorgen um mich machen müssen. Ich bin stolz, dass ich das bis jetzt so hingekriege und ganz selbstständig bin. Und trotzdem wünsche ich mir manchmal, dass meine Eltern so viel Zeit für mich hätten, wie für ihn. Dafür beneide ich ihn wirklich. Aber er hat es ja auch schwerer- und muss früher sterben… Manchmal träume ich davon, dass er neben mir stirbt und ich nichts machen kann. Aber das ist mein Geheimnis. Ich habe solche Angst, ihn zu verlieren.»
Das Geschwisterkind ist in mehrfacher Hinsicht von der chronischen Erkrankung betroffen. Oft nehmen sich die Geschwister angesichts der vielfältigen familiären Herausforderungen und Belastungen in ihren Gefühlen und Bedürfnissen häufig zurück oder verdrängen sie und zeigen sich von ihrer stärksten Seite. Natürliche Interaktionsformen zwischen Geschwistern wie Konflikte, Aggression, Eifersucht werden eher unterdrückt, um das kranke Geschwister nicht zu verletzen oder die ohnehin schon belasteten Eltern nicht noch zusätzlich zu beanspruchen. Dieses Zurückhalten der Emotionen könnte bis zu einem gewissen Grad erklären, warum viele Geschwisterkinder eher zu internalisierenden Probleme (Ängste, Depressionen…) als zu externalisierenden (z.B. Aggressionen) neigen. Sie halten sich in ihren Problemen oder Nöten zurück und leiden oft im Stillen. Eine bestehende Trauer oder Eifersucht, zum Beispiel weil das erkrankte Geschwister im Zentrum der Aufmerksamkeit steht, wird möglicherweise nicht ausgesprochen. Typisch rivalisierendes, konflikthaftes Verhalten, das eine wichtige Sozialisationsfunktion erfüllt, kann somit kaum ausgelebt werden.
Oft bemühen sie sich die Familie zu unterstützen und beziehen (unbewusst) die familiäre Situation auf sich, haben Schuldgefühle, was die Verursachung der Erkrankung betrifft oder wenn sie ihre physisch unbeschwerte Ausgangs- und Lebenslage mit der ihres Geschwisters vergleichen. Gleichzeitig zeigen sie oft eine grössere Unabhängigkeit und Verantwortungsbewusstsein sowie einen höheren Reifegrad und Sozialkompetenz im Vergleich zu Gleichaltrigen.
Eine offene Kommunikation stellt für alle eine Schlüsselressource dar, da sie Gemeinsamkeit sowie mehr Klarheit schafft, Ängste verringert, der Orientierung der Kinder dient und die familiäre Organisation und Planung erleichtert.
Mögliche chronische Erkrankungen
Asthma bronchiale
Cystische Fibrose (CF)
Diabetes mellitus Typ I & II
Angeborene Herzfehler
Epilepsien
AD(H)S
Autismus-Spektrum-Störung (ASS)
Chronische Darmentzündungen
Neurodermitis
div. Sinnes- oder körperliche & geistige Beeinträchtigungen
Familiäre Beratung
Die Familie wird durch die chronische Erkrankung eines Kindes aus ihren gewohnten Lebenszyklen und Strukturen herausgerissen. Der Beratungs- und Unterstützungsbedarf lässt sich nicht standardisieren, sondern ist abhängig von der Art der Erkrankung, dem Alter des Kindes, der Phase der Krankheitsbewältigung und weiteren individuellen Ressourcen oder Belastungsfaktoren innerhalb der familiären Situation. Je nach Krankheitsstadium, Phasen oder biographischen Besonderheiten der Kinder, wie Schuleintritt oder Pubertät, wird der Hilfebedarf neu erhoben sowie Ziel und Setting angepasst.
Mögliche Ziele
- Stabilität und (Re-) Organisation des Alltags der Familie
- Förderung der Ressourcen und Stärken von Geschwisterkindern
- Gemeinsame Erarbeitung von Bewältigungsstrategien und der Abbau von Ängsten, Sorgen, Gewissensbisse, Frustration oder anderen Gefühlen wie Schuld- oder Schamgefühlen
- Umgang mit ambivalenten Gefühlen und Gedanken
- Einbindung und Einbezug von weiteren Hilfe- und Versorgungssystemen